FAZ-Bericht: „Ansturm auf die Warenlager

Zum Schutz vor Lieferengpässen baut der Handel hohe Vorräte auf. Die Nagel-Group kommt mit dem Transport kaum noch hinterher.

Von Helmut Bünder, Düsseldorf

Carsten Taucke hat sein ganzes Berufsleben in der Logistik verbracht, doch eine Entwicklung wie in diesen Wochen hat der Vorstandschef der Nagel-Group noch nicht erlebt. Alles, was fahren kann, ist unterwegs, Lagerhallen und Depots platzen aus den Nähten. Das Unternehmen ist der größte deutsche Lebensmittellogistiker. Jeden Tag sind rund 7000 Lastwagen für die Gruppe unterwegs und liefern den Nachschub für Supermärkte und Gastronomie. Und die Kunden ordern wie selten zuvor: „Unsere Transportmengen sind um unglaubliche 20 Prozent höher als vor einem Jahr. Überall werden die Läger vollgemacht, um Vorräte anzulegen und sich für mögliche Engpässe vorzubereiten“, sagt Taucke.

Angespannte Lieferketten, die Energiekrise und die Sorge vor möglichen Blackouts führen zu einem Umdenken. Viele Handelsunternehmen seien in Habachtstellung und stockten ihre Bestände auf wie nie zuvor. „Das geht praktisch über das gesamte Sortiment, von der Wurst übers Tierfutter bis zur Dosensuppe“, erzählt Taucke im Gespräch mit der F.A.Z. Auch die unternehmenseigenen Läger seien randvoll, an manchen Standorten würden bereits Extraschichten am Samstag gefahren, um die Aufträge zu bewältigen. Mehr geht nicht, dafür wären Ausnahmen vom Sonntagsfahrverbot notwendig. „In einer solchen Phase wäre etwas mehr Flexibilität sehr hilfreich“, meint Taucke.

Denn so allmählich kommt auch das Weihnachtsgeschäft auf Hochtouren. Trotz Inflation und Konjunktursorgen sieht der Vorstandschef keine Anzeichen dafür, dass die Festtage dieses Jahr magerer ausfallen werden. „Am Essen wird bisher nicht gespart. Wir sehen weder einen Einbruch bei teureren Produkten noch eine Verlagerung zum Discount“, sagt Taucke. Das Unternehmen mit Sitz im ostwestfälischen Versmold beliefert praktisch die gesamte Handelslandschaft, von Aldi und Netto bis zu Rewe, Metro und Edeka, sodass es einen guten Überblick über das Marktgeschehen haben sollte.

Die aufwendigen Trailer für den Transport tiefgefrorener, gekühlter und frischer Lebensmittel gehören fast ausnahmslos Nagel. Bewegt werden die Lastwagenanhänger aber zum größten Teil von Fuhrunternehmen, die ihre eigenen Zugmaschinen mitbringen. Auch für viele Trailer zum Transport von Trockenware wie Konserven und Nudeln sowie Wein, Kaffee und Süßwaren greift Nagel auf Angebote von Fremdunternehmen zurück. Zusatzkapazitäten sind allerdings absolute Mangelware. „Im Moment bekommen wir zu spüren, wie eng es auf dem Markt zugeht“, sagt Taucke. Neben dem allgemeinen Fahrermangel machen sich die vielen Ausfälle durch Corona bemerkbar. „Wenn sich in einem typischen Kleinunternehmen mit drei oder vier Lastwagen ein Fahrer ansteckt, lässt sich das in der Regel nicht kompensieren. Dann bleibt ein Fahrzeug mal eben ein oder zwei Wochen stehen.“

Die andere Herausforderung sind die extrem gestiegenen Kosten für Treibstoffe, Ersatzteile und Personal. Viele Kleinunternehmen stünden mit dem Rücken zur Wand, meint Taucke, der als Präsidiumsmitglied des Bundesverbandes Groß- und Außenhandel (BGA) die Branche auch gegenüber der Politik vertritt. Angesichts der Kostenlawine muss Nagel für seine Transporteure deutlich tiefer in die Tasche greifen. Die Preissteigerungen anschließend an die eigenen Kunden weiterzugeben sei dagegen regelmäßig mit schwierigen Verhandlungen und viel Überzeugungsarbeit verbunden. Taucke erwartet zwar, dass Nagel seinen Vorjahresumsatz von 2,1 Milliarden Euro halten kann. Beim Überschuss von zuletzt 66 Millionen Euro rechnet er allerdings eher damit, dass es abwärtsgehen wird. Für das traditionsreiche Familienunternehmen dürfte der Rücksetzer zu verschmerzen sein. Seit seinem Amtsantritt 2018 hat Taucke die Gruppe wieder auf Erfolgskurs gebracht. Die eigenen Landesgesellschaften für Frankreich, Italien, Benelux und Großbritannien wurden verkauft. Stattdessen werden diese Märkte nun über eine Kooperationsvereinbarung mit dem französischen Wettbewerber Stef bedient, während Nagel das Geschäft in den Kernmärkten Deutschland, Österreich, Schweiz, Nord- und Osteuropa in großen Schritten ausbaut.

Die Eigentümerfamilie hat für die kommenden zehn Jahre ein Investitionsprogramm im Umfang von 800 Millionen bis zu einer Milliarde Euro freigegeben. „Ein Viertel davon haben wir schon mobilisiert“, sagt der 57 Jahre alte Vorstandschef. Erste Bauprojekte sind abgeschlossen, zehn weitere große Vorhaben für neue Terminals und Lagerstandorte befinden sich in der Planung oder Ausführung. Insgesamt plant die Gruppe mit einer Zusatzfläche von mehr als 150 000 Quadratmetern. Investiert wird auch in die digitale Infrastruktur. Ein „deutlich zweistelliger Millionenbetrag“ sei dafür reserviert.

Aber Taucke will nicht nur organisch wachsen. Er will das Unternehmen durch gezielte Zukäufe breiter aufstellen und aus der Lebensmittellogistik in wachstumsstarke, aber verwandte Bereiche vorstoßen. „Wir wollen diversifizieren, um krisenfester zu werden und höhere Margen zu erreichen“, sagt er. Für weitere Übernahmen hat er klare Kriterien aufgestellt: Der Umsatz soll wenigstens 250 bis 300 Millionen Euro betragen, für die Rendite bezogen auf den Betriebsgewinn vor Zinsen und Steuern (Ebit) erwartet er mehr als 5 Prozent, und schließlich müsse das Unternehmen aus einer Wachstumsbranche kommen. „Die Pharma- und Gesundheitslogistik zum Beispiel würde prima zu uns passen“, meint Taucke. Fast jede Woche gebe es Gespräche mit Banken und Beratern, aber bisher seien neue Abschlüsse an den Preiserwartungen der Verkäufer gescheitert.

Ein erster großer Schritt war im vorigen Jahr der Zukauf der Spedition B&S mit Sitz im benachbarten Borgholzhausen, ein Unternehmen mit 1050 Mitarbeitern und damals 100 Millionen Euro Umsatz. Dank des Zusammenspiels mit der Nagel-Group werde der Umsatz der neuen Tochtergesellschaft schon in diesem Jahr um rund die Hälfte wachsen, sagt Taucke. Mit B&S erschließt sich die Gruppe erste Geschäftsfelder außerhalb des Lebensmittelsegments, zum Beispiel im Bereich Pharma und Babyprodukte. Und Taucke kann auf der E-Commerce-Expertise von B&S aufbauen, um eigene Versandlösungen für Lebensmittel zu erarbeiten. „Viele unserer Kunden wollen Omnichannel-Angebote und schnelle Lieferservices. Dafür entwickeln wir neue Modelle und Angebote“, sagt Taucke.

Dabei denkt er auch an die Auslieferung tiefgekühlter und gekühlter Lebensmittel. Im Vordergrund stehen zunächst kleinere Gewerbekunden wie Bäckereien oder Imbissstuben sowie logistische Lösungen für Lebensmittellieferdienste. Mit einem ersten Anbieter in Berlin gebe es konkrete Gespräche. Taucke denkt dabei nicht nur an die Versorgung von Innenstadtdepots, aus denen die Ware später zugestellt wird, sondern auch an Softwareentwicklung und Routenplanung. Ziel sei es, ganzheitliche „urbane Lieferkonzepte“ zu entwickeln. Dabei kann sich Taucke vorstellen, dass Nagel eines Tages selbst Elektrovans oder Lastenräder durch die Straßen rollen lässt, um Lebensmittel an die Haustüren zu liefern: „Wenn sich der Onlinehandel mit Lebensmitteln weiter entwickelt, werden wir dabei sein.“

 

 

Der Bericht „Ansturm auf die Warenlager“ ist von Helmut Bünder am 21.10.2022 in der FAZ erschienen. Hier geht es zum Originalbericht.

Über die Nagel-Group

Die auf Lebensmittellogistik spezialisierte und europaweit agierende Nagel-Group mit Sitz in Versmold beschäftigt an mehr als 130 Standorten über 11.500 Mitarbeiter. Zuletzt erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von 2,1 Milliarden Euro. Täglich bewegt die Unternehmensgruppe Lebensmittel in allen Sendungsgrößen und Temperaturklassen. Ob Tiefkühlprodukte, Fleisch, Milchprodukte, Kaffee oder Süßwaren – Tag für Tag trägt die Nagel-Group im Auftrag von Industrie und Handel dazu bei, dass Verbraucher in ganz Europa am Point of Sale die richtige Ware zur richtigen Zeit und in der richtigen Qualität vorfinden. Damit leistet die Nagel-Group einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg ihrer Kunden.

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